Kontostand: -432,62
Ausgaben: 75,00
Einnahmen: 00,00
Verwendungszweck: Eintritt zum Motivationskongress
Wie fast immer auf meinem Weg kommt mir der Zufall zu Hilfe. In nicht allzu weiter Entfernung findet ein Motivations-Kongress statt. Motivation, so schreibt Lukas’ Bruder, ist einer der Kernfaktoren für jegliche Art von Erfolg. Ein anständiger Coach prüft also zunächst, ob ich tatsächlich motiviert genug bin, 1 Million Euro zu verdienen. Es erinnert ein wenig an den guten alten Napoleon Hill.
Ein Schock: Der Eintritt kostet 75€! Aber ich bin total motiviert und lasse mich davon nicht abhalten. Gutgekleidete Menschen (Männer in grauen Anzüge, Nadelstreifenanzüge, wenigen schwarzen Anzüge und Frauen in Business-Kleidern, Hosenanzügen und flachen Schuhen) strömen auf den Eingang der Kongresshalle zu und erwecken in mir sofort ein Gefühl der Dringlichkeit. Immer, wenn es Menschen um mich herum eilig haben, bekomme ich ein schlechtes Gewissen: Warum habe ich es nicht eilig? Ich sollte es doch auch eilig haben! Ich könnte etwas versäumen! Ich lasse mich anstecken von der allgemeinen Hetze, lasse überflüssige Höflichkeitsformeln außer acht („Ladies first“), quetsche mich zusammen mit anderen durch die Flügeltüren und stehe schon bald Ellbogen an Ellbogen an der Garderobe, um mein Sakko abzugeben. Erstes faux pas: Ich habe keinen Mantel. Der Mann neben mir im grauen Anzug und den braunen Schuhen (ich dachte immer „no brown after six“, es ist schon 19:45) rückt sich seine Krawatte zurecht und meint, er hätte seinen Mantel auch zu Hause lassen sollen, dann könnte er sich die 2€ Garderobe sparen. Ich spare mir das Geld tatsächlich, indem ich mein Sakko doch nicht abgebe sondern lediglich den untersten und den obersten Knopf aufmache. Das hat man so.
Memo an mich selbst: Unbedingt einen Business-Knigge lesen!
Ich gehe in die Vortragshalle, vorbei an einem Stand mit Merchandising. Wie bei einem Rock-Konzert. Nur gibt es hier anstatt von T-Shirts mit Bandlogo und der neusten CD hier Motivationsposter („Mut steht am Anfang des Handelns, Glück am Ende.“ Demokrit; „Wer Erfolg haben will, darf keine Angst haben, Fehler zu machen.”; “Es kann mich niemand daran hindern, über Nacht klüger zu werden.“ Konrad Adenauer) und Bücher der großen Meister: Brian Tracy allen voran, auch Bodo Schäfer, und natürlich Napoleon Hill. Und Audio-CDs: Hörbücher der Bestseller für diejenigen, die eigentlich keine Zeit haben, zu lesen und CDs mit Motivations-Mantras zur Autosuggestion.
Als ich den Saal betrete, sind die meisten Stuhlreihen schon besetzt, der Kongress scheint so gut wie ausverkauft zu sein. Ich ergattere einen Platz seitlich in der Mitte und bin gespannt. Pünktlich um 20:00 Uhr, wie es das Plakat verspricht – man zollt dem Besucher Respekt, schließlich ist Zeit Geld („Meine Pünktlichkeit drückt aus, dass mir deine Zeit so wertvoll ist wie meine eigene.“) – geht das Licht aus und der Spot an. Es erscheint ein älterer, in Ehren ergrauter Mann in dunkelblauem Anzug mit gelb-schwarzer Krawatte.
Applaus.
Der Mann hat noch kein Wort gesagt. Salbungsvoll hebt er die Arme.
Standing Ovations.
Anscheinend habe ich etwas verpasst. Chinesischer Sekundenschlaf? Oder ist es meine Unwissenheit, die mich den Meister nicht erkennen lässt? Ich bin skeptisch – oder unmotiviert?
Gut, dass ich hier bin.
Und dann beginnt der Meister zu sprechen. Er spricht davon, wie leicht es ist, Erfolg zu haben, wenn man nur will. Gewinner wollen. Verlierer wollen nicht. Die Menschen Jubeln. Irgendwann zieht der Meister sein Sakko aus. Gewinner haben Selbstdisziplin und Ausdauer. Verlierer nicht. Gewinner haben ein positives Selbstbild. Verlierer nicht. Gewinner denken positiv. Verlierer nicht. Gewinner haben Visionen. Verlierer nicht. Der Meister krempelt die Ärmel hoch. Motivieren ist Schwerstarbeit. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn. In unregelmäßigen Intervallen jubelt die Menge frenetisch. Ich muss zugeben: Der Meister hat Charisma. Er schafft es tatsächlich, zu inspirieren, zu motivieren. Doch zu was? Er motiviert dazu, erfolgreich zu sein. Oder erfolgreich sein zu wollen. Am Ende bin ich tatsächlich motiviert. Ich will es schaffen. Unbedingt. „Gib niemals auf“, „Du kannst es schaffen“
Ich kann alles schaffen, was ich will.
Doch Wie? Wie? Wie?
Als ich an der Garderobe vorbei gehe, treffe ich den Mann im grauen Anzug wieder. „Toller Vortrag.“ Ich nicke zustimmen. Wir gehen alle noch auf ein Bier. Kommst du mit? Erst jetzt realisiere ich, dass ich umgeben bin von lauter Menschen, die sich kennen. In ihren Business-Outfits sehen sie alle annähernd gleich aus. Identisch. Oder zumindest sehr ähnlich. Sie nicken mir wiederum motivierend zu. Ich lehne höflich ab. Ihre Zeit ist mir nicht ganz so wertvoll wie meine eigene.
Zu Hause durchforste ich meine DVD-Sammlung und finde tatsächlich, was ich suche: Eine US-Import DVD von The Ray Bradbury Theatre aus dem Jahr 1985 mit einer Episode namens The Crowd: Joe Spellinger fährt spätnachts von einer Party nach Hause und hat einen Unfall. Nur wenige Sekunden später ist er von einer gaffenden Menschenmenge umgeben. Ein Krankenwagen bringt Joe ins Krankenhaus. Woher kam diese Menschenmenge um zwei Uhr nachts?
Als Joe sich mit seinem Kollegen trifft, werden sie Zeugen eines weiteren Autounfalls. Genau 21 Sekunden nach dem Unfall hat sich eine gaffende Menge um das Opfer versammelt. Joe erkennt einige Gesichter wieder – von seinem eigenen Unfall. Joe bittet Morgan, ihm Videoaufnahmen von Autounfällen zu besorgen und stellt fest, dass die Gesichter der gaffenden Menge immer dieselben sind. Gesichter von Opfern früherer Verkehrsunfälle.
Gruselig.